Sonntag, 26. April 2015

Horseshit?


Manche Mythen dürfen nicht zerstört werden. Denn oft verraten sie mehr als reine wissenschaftliche Geschichtsschreibung. Oder wie ein Freund von mir einmal auf die erstaunte Frage, ob bei Heini Thyssen wirklich ein Picasso auf dem Klo hing, leicht genervt antwortete: "Nein, natürlich nicht, aber so war er!"

Nun hat Bianca Jagger in einem Brief an die Weekend FT (Letters, 25./26. April) klargestellt, dass die uralte – fest in New Yorks Mythologie – verankerte Geschichte, sie sei an ihrem 32. Geburtstag auf einem weißen Pferd ins Studio 54 eingeritten, leider nicht stimmt.

Sie schreibt:

"I would like to set the record straight. Mick Jagger and I walked into Studio 54. Steve Rubell had apparently seen a picture in a magazine of me riding a white horse in Nicaragua and he thought it would be a clever idea to bring a horse to the club as a birthday surprise for me. It was a beautiful white horse that reminded me of mine and I made the foolish decision to get on it for a few minutes. The photographed image went around the world, giving rise to the fable – that  I arrived at the Studio 54 on a white horse."

Ab da gleitet der Brief ab. Sie fährt fort:

"As an environmentalist and an animal rights defender, I find the insinuation that I would ride a horse into a nightclub offensive."

Ok, ok. We get it. Aber, dearest Bianca, der Übermut, der "spirit" der unter Euch damals herrschte, wird durch diesen einen Satz "she famously entered her birthday party atop a white horse", ob akkurat oder nicht, allegorisch auf den Punkt gebracht. Muss Geschichte nicht manchmal in Anekdoten erzählt werden, um ein wirklich akkurates Bild der Zeit zu vermitteln?

Egon Friedell schrieb in seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit": "Oft wird ein ganzer Mensch durch eine einzige Handbewegung, ein ganzes Ereignis durch ein einziges Detail schärfer, einprägsamer, wesentlicher charakterisiert als durch die ausführlichste Schilderung. Kurz: die Anekdote in jederlei Sinn erscheint mir die einzig berechtigte Kunstform der Kulturgeschichtsschreibung."

Und beim großen englischen Historiker Thomas Macaulay finden wir den Satz: "Die besten Porträts sind vielleicht die, in denen sich eine leichte Beimischung von Karikatur findet, und es lässt sich fragen, ob nicht die besten Geschichtswerke die sind, in denen ein wenig von der Übertreibung der dichterischen Erzählung einsichtsvoll angewendet ist."

Oder, um es mit Reich-Ranicki zu sagen: "Man muss eben übertreiben und verstanden zu werden."

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